Erlernte Hilflosigkeit – warum wir manchmal aufgeben, bevor wir angefangen haben

Birthe Claußen
von Birthe Claußen

Es gibt Momente, da geben wir innerlich auf, bevor wir überhaupt angefangen haben.

„Es hat doch sowieso keinen Sinn.“ – ein Satz, der sich leise einschleicht, unsere Energie abschnürt und uns lähmt, noch bevor wir handeln konnten.

Was wie persönliches Versagen wirkt, ist in Wahrheit ein psychologisches Muster: erlernte Hilflosigkeit. Sie entsteht, wenn wir immer wieder erleben, dass unser Handeln nichts ändert – und daraus folgern, dass es niemals etwas ändern wird. Das Tückische daran: Selbst wenn die Tür längst offensteht, nehmen wir sie nicht mehr wahr.

Frau sitzt traurig in einem Karton – Symbolbild für erlernte Hilflosigkeit und das Gefühl, gefangen zu sein.

Vom Kampf zum Rückzug

Die Wurzeln dieses Phänomens liegen in den 1960er-Jahren, als der Psychologe Martin Seligman Hunde in ein Experiment brachte, das heute kaum noch denkbar wäre. Wiederholt erhielten sie Stromschläge, ohne Möglichkeit, zu entkommen. Nach einiger Zeit gaben sie jede Gegenwehr auf. Und selbst als später ein Ausweg vorhanden war, blieben sie liegen. Sie hatten verinnerlicht: Es hat keinen Zweck.

Übertragen auf Menschen zeigt sich dasselbe Muster überall dort, wo Anstrengungen wiederholt ins Leere laufen:

  • Im Job: Du engagierst dich, schlägst Ideen vor, kämpfst für bessere Abläufe – und wirst immer wieder übergangen. Irgendwann machst du keine Vorschläge mehr, weil du überzeugt bist, dass es nichts bringt.
  • In Beziehungen: Du sprichst Probleme an, versuchst Veränderungen herbeizuführen, doch deine Worte verhallen. Mit der Zeit hörst du auf, etwas zu sagen – und ziehst dich innerlich zurück.
  • In der Schule oder Ausbildung: Du lernst, strengst dich an und bekommst dennoch schlechte Rückmeldungen. Die Botschaft, die hängen bleibt: „Egal, was ich tue – es reicht nicht.“

Mit jedem Versuch, der scheitert, wächst das Gefühl der Ohnmacht – bis Aufgeben schließlich zur Strategie wird.

Die Wurzeln in der Kindheit

Oft beginnt dieses Muster schon viel früher – in der Kindheit. Denn in dieser Lebensphase sind wir auf unsere Bezugspersonen angewiesen und verfügen über kaum eigene Handlungsmöglichkeiten. Wenn Kinder wiederholt erleben, dass ihre Versuche ins Leere laufen oder sogar bestraft werden, kann sich eine tiefe Überzeugung einprägen: „Egal, was ich tue, es macht keinen Unterschied.“

Das geschieht zum Beispiel, wenn:

  • Bedürfnisse regelmäßig übergangen oder abgewertet werden,
  • Anstrengung nie gesehen oder anerkannt wird,
  • Erwachsene willkürlich reagieren – heute loben, morgen bestrafen, ohne klare Gründe,
  • oder ein Kind Verantwortung übernehmen muss, die es gar nicht tragen kann.

Solche Erfahrungen prägen das innere Weltbild: Ich habe keinen Einfluss. Meine Bemühungen sind wertlos.

Einmal verinnerlicht, begleitet dieses Grundgefühl viele Menschen ins Erwachsenenleben, wo es durch neue Ohnmachtserfahrungen in Schule, Arbeit oder Beziehungen immer wieder bestätigt werden kann.

Warum unsere Psyche uns das beibringt

So destruktiv Hilflosigkeit wirkt – sie hat eine Funktion. Die Psyche versucht, uns zu schützen. Wer keine Erwartungen mehr hat, wird auch nicht enttäuscht. Wer den Kampf einstellt, spart Energie. Wer die Verantwortung komplett aufgibt, muss sich nicht länger mit der eigenen Unzulänglichkeit auseinandersetzen.

Es ist, als würde das innere System die Notbremse ziehen: Lieber nichts mehr riskieren, als immer wieder zu scheitern. Kurzfristig mag das entlasten – langfristig jedoch verengt es unser Leben.

Wenn der Käfig unsichtbar wird

Das eigentlich Gefährliche an erlernter Hilflosigkeit ist nicht die Ohnmacht selbst, sondern die Überzeugung, dass sie unumstößlich ist.

Wir sitzen wie in einem Käfig, der in Wahrheit offensteht – aber wir haben verlernt, hindurchzugehen.

Und das hat Folgen: Unsere Motivation sinkt, weil wir keinen Sinn mehr im Anfangen sehen. Unser Denken verengt sich, weil wir jeden Misserfolg als Beweis unserer Unfähigkeit deuten. Unser Selbstbild schrumpft, weil wir das Gefühl entwickeln, generell nichts bewirken zu können. Und unsere Gefühle folgen diesem Muster – Resignation, Traurigkeit, manchmal Angst oder Scham.

Besonders tückisch ist, dass wir selbst die Situationen, in denen wir etwas bewegen, gar nicht mehr registrieren. Der innere Filter ist schon so eingestellt, dass er nur das bestätigt, was wir glauben: Ich kann nichts ändern.

Die Brücke zur Depression

In der Psychologie gilt erlernte Hilflosigkeit als eine der zentralen Grundlagen, um depressive Symptome zu verstehen. Wer Misserfolge wiederholt als persönlich („es liegt an mir“), stabil („es wird immer so sein“) und global („es betrifft alles in meinem Leben“) erklärt, rutscht leichter in einen Zustand chronischer Hoffnungslosigkeit.

Die Spirale ist selbstverstärkend: je weniger wir handeln, desto weniger erleben wir Wirksamkeit – und je weniger Wirksamkeit wir erleben, desto weniger handeln wir.

Ein individuelles und gesellschaftliches Muster

Hilflosigkeit ist kein individuelles Problem allein. Sie wird auch durch Strukturen genährt, die Menschen systematisch entmündigen. Ein Schulsystem, das wenig Raum für Individualität lässt. Arbeitswelten, in denen Mitarbeitende kaum mitgestalten dürfen. Gesellschaftliche Botschaften, die uns suggerieren: Das war schon immer so, du kannst nichts daran ändern.

Wenn ganze Gruppen immer wieder dieselben Ohnmachtserfahrungen machen, wird Hilflosigkeit zum kollektiven Muster. Und eine Gesellschaft, die gelernt hat, hilflos zu sein, hinterfragt weniger und erträgt mehr.

Wege zurück ins Handeln

Die gute Nachricht: Hilflosigkeit ist erlernt – und damit auch verlernbar. Der Weg führt nicht über einen einzigen großen Befreiungsschlag, sondern über viele kleine Erfahrungen, die ein neues inneres Bild entstehen lassen: Mein Handeln zählt.

Das beginnt damit, das Muster zu erkennen und ihm einen Namen zu geben. Schon dieses Bewusstsein schafft Distanz. Dann braucht es kleine Schritte, die spürbar machen, dass wir Einfluss haben: eine Aufgabe beenden, eine klare Entscheidung treffen, ein Gespräch führen. Jedes noch so kleine Erfolgserlebnis ist wie ein Kratzer im unsichtbaren Gitter.

Auch die Art, wie wir über Misserfolge denken, lässt sich verändern. Ist es wirklich immer so? Bin ich wirklich grundsätzlich machtlos – oder nur in diesem einen Bereich? Solche Fragen öffnen Räume und schaffen Spielraum für neue Interpretationen.

Und nicht zuletzt: Wir brauchen manchmal andere Menschen, die uns Möglichkeiten zeigen, die wir selbst nicht mehr sehen können – die uns ermutigen, bevor wir uns selbst zutrauen, wieder zu handeln.

Ein schmaler, aber entscheidender Unterschied

Wir sind nicht hilflos, weil wir es tatsächlich sind. Wir sind hilflos, weil wir glauben, es zu sein.

Dieser Unterschied ist fein – aber er verändert alles.

Denn wenn Hilflosigkeit gelernt ist, kann sie auch überschrieben werden. Mit jeder kleinen Erfahrung, die uns zeigt: Mein Handeln hat eine Wirkung, wird das alte Muster brüchiger. Irgendwann ist es so löchrig, dass wir den Käfig verlassen können.

Fazit

Erlernte Hilflosigkeit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein erlerntes Muster – geboren aus der Erfahrung, dass Bemühungen immer wieder ins Leere laufen. Sie ist der Versuch der Psyche, uns zu schützen, aber sie raubt uns auf Dauer Lebendigkeit und Freiheit.

Doch was gelernt wurde, kann auch wieder verlernt werden. In Coaching oder Therapie kannst du Schritt für Schritt neue Erfahrungen sammeln, die deine Selbstwirksamkeit stärken – und erleben, dass dein Handeln Wirkung hat.

Der erste Schritt ist das Verstehen. Der zweite ein kleiner, vielleicht unscheinbarer Akt des Handelns. Und der dritte die Erkenntnis: Jede noch so kleine Bewegung zählt.

Die Tür des Käfigs steht offen. Es braucht manchmal nur die Entscheidung, hindurchzugehen.

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Birthe Claußen
Birthe Claußen
Ich bin Birthe, Gründerin von muutu und Aktivistin für psychische Gesundheit. Und nein – bei muutu geht’s nicht um Wellness, nicht um Selbstoptimierung und schon gar nicht um „Tschaka, du schaffst das!“-Coaching. Hier gibt’s keine schnellen Tipps oder gut gemeinte Ratschläge, sondern echte, nachhaltige Veränderungsprozesse. Es geht ums große Ganze: um deine Wünsche und Ängste, um alte Muster und neue Wege. Um psychische Gesundheit – tiefgehend, ehrlich und langfristig. Weil das Leben nicht nur besser funktioniert, wenn du dich veränderst, sondern sich wirklich gut anfühlen darf.

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