Ständig auf Entschuldigung: Warum wir uns so oft entschuldigen – und was das mit uns macht

Birthe Claußen
von Birthe Claußen
„Sorry, dass ich störe…“
„Leider kann ich heute nicht…“
„Ich hoffe, es ist nicht schlimm, aber ich schaffe es doch nicht.“
„Tut mir leid, dass ich nein sage.“

Kommt dir das bekannt vor?

Viele von uns sagen „Sorry“, bevor wir überhaupt den Raum betreten. Wir entschuldigen uns, wenn wir sprechen, wenn wir atmen, wenn wir eine Grenze setzen oder schlicht nicht so funktionieren, wie andere es gerade gerne hätten. Es ist, als sei das ständige Entschuldigen ein automatischer Reflex geworden – ein sprachliches Schulterzucken, ein verbales Kleinmachen.

Doch was steckt hinter dieser Entschuldigungsinflation? Und was macht es mit uns, wenn wir Verantwortung dort übernehmen, wo gar keine liegt – und gleichzeitig dort schweigen, wo sie dringend nötig wäre?

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Der Entschuldigungsreflex – mehr als nur Höflichkeit

Natürlich ist es ein Zeichen von sozialer Intelligenz, wenn wir in der Lage sind, uns zu entschuldigen. Empathie, Rücksichtnahme, das Übernehmen von Verantwortung – all das sind wertvolle Fähigkeiten. Aber genau hier liegt auch der Knackpunkt: Eine echte Entschuldigung setzt voraus, dass ein tatsächliches Fehlverhalten vorliegt. Wenn wir uns hingegen ständig reflexhaft entschuldigen – auch für Dinge, die keiner Entschuldigung bedürfen – verwässert sich der Wert dessen, was eigentlich eine zwischenmenschliche Stärke sein könnte.

Beispiel:
„Leider kann ich heute nicht.“
Warum leider?
Ist es wirklich ein Grund zur Reue, wenn du heute keine Kapazität hast? Oder ist das schlicht eine legitime Entscheidung?

Das Wörtchen leider signalisiert ein Bedauern, wo vielleicht gar keins ist. Oder zumindest keins sein müsste.

Wenn Selbstschutz zur Schuld wird

In unserer Leistungsgesellschaft ist Verfügbarkeit fast schon ein stillschweigendes Muss. Immer funktionieren. Immer reagieren. Immer erreichbar. Wer aussteigt – oder auch nur innehält – steht schnell unter dem Verdacht, egoistisch, faul oder unhöflich zu sein.

Die ständige Entschuldigung dient oft dazu, uns für diesen vermeintlichen Mangel zu rechtfertigen:
„Es tut mir leid, dass ich nicht kann.“
„Ich hoffe, du bist nicht böse, aber ich muss absagen.“
„Ich weiß, ich melde mich viel zu selten…“

Doch was, wenn wir uns nicht entschuldigen müssten – sondern einfach kommunizieren dürften?
Was, wenn Selbstfürsorge kein Grund zur Reue, sondern Ausdruck von Klarheit wäre?

Die Angst, unliebsam zu sein

Ein zentraler Aspekt dieses sprachlichen Reflexes ist die tiefsitzende Angst vor Ablehnung. Viele Menschen – besonders Frauen und marginalisierte Gruppen – haben früh gelernt, sich anzupassen, freundlich zu sein, Erwartungen zu erfüllen. Wer Nein sagt, wer sich nicht rechtfertigt, riskiert, nicht mehr als angenehm wahrgenommen zu werden. Schnell gilt man als schwierig, zickig, arrogant oder unhöflich.

Entschuldigen wird so zur sozialen Strategie:
Wir entschärfen unser Nein, indem wir uns klein machen.
Wir dämpfen unsere Klarheit mit Reue.
Wir sichern unsere Zugehörigkeit, indem wir uns schuldig fühlen – auch wenn es keinen Grund dafür gibt.

Doch dieser Mechanismus hat einen Preis. Denn wer sich ständig entschuldigt, sendet unbewusst ein Signal aus: Ich bin nicht sicher, ob ich ein Recht auf meine Grenzen, Bedürfnisse oder Entscheidungen habe.

Wenn wir uns verlieren: Rechtfertigungen als endlose Schleifen

Eng verwandt mit den reflexhaften Entschuldigungen ist das Phänomen der übermäßigen Rechtfertigung. Statt klar und selbstbewusst zu kommunizieren, verlieren wir uns in Erklärungen:
„Ich würde ja gern, aber dann kam das dazwischen, und außerdem war gestern auch noch…“
„Ich hatte wirklich vor, es zu schaffen, aber dann ging es mir nicht so gut, und dann war noch dies und das…“

Oft brauchen wir diese Rechtfertigungen gar nicht. Die andere Person hat gar nicht nach einem Grund gefragt – oder es wäre völlig ausreichend gewesen zu sagen: Ich habe mich anders entschieden.

Aber wir fühlen uns verpflichtet, unser Verhalten zu erklären, abzupuffern, abzusegnen. Es ist, als müssten wir beweisen, dass unsere Grenze oder unser Nein „berechtigt“ ist.

Doch was wäre, wenn dein Nein nie begründet werden müsste, um gültig zu sein?
Was wäre, wenn deine Entscheidung immer zählt – einfach, weil du sie triffst?

Ein sprachlicher Machtwechsel: Von Entschuldigung zu Verantwortung

Es ist an der Zeit, zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden. Nicht jede Absage, jede Grenze, jede Entscheidung ist ein Fehler. Manches ist einfach nötig, um sich selbst treu zu bleiben. Manches ist unangenehm, aber gesund. Und manches ist nicht einmal erklärungsbedürftig.

Statt reflexhaft „Entschuldigung“ zu sagen, könnten wir uns fragen:

  • Gibt es hier wirklich etwas, für das ich Verantwortung trage?
  • Habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht – oder einfach meine Bedürfnisse ernst genommen?
  • Dient meine Entschuldigung der Beziehung – oder nur meinem schlechten Gewissen?

Sprache formt unser Selbstbild

Sprache ist niemals neutral. Wie wir sprechen, prägt, wie wir uns selbst und andere sehen. Wer ständig „Sorry“ sagt, wer immer wieder „leider“ einfügt, untergräbt unbewusst seine eigene Berechtigung, Raum einzunehmen. Umgekehrt kann es unglaublich stärkend sein, bewusst nicht um Verzeihung zu bitten, wo keine notwendig ist.

Ein paar Beispiele für Alternativen:

  • Statt: „Tut mir leid, dass ich so direkt bin…“
    → „Ich spreche es offen an, weil es mir wichtig ist.“
  • Statt: „Ich hoffe, das ist okay für dich…“
    → „Ich habe mich so entschieden.“
  • Statt: „Leider schaffe ich es nicht.“
    → „Ich bin heute nicht verfügbar.“

Das klingt vielleicht ungewohnt. Vielleicht sogar hart. Aber es ist ehrlich. Und es schafft Klarheit – für dich und dein Gegenüber.

Aber: Nicht jedes „sorry“ ist falsch.

Manchmal ist es ehrlich. Manchmal zeigt es Rücksicht.
Eine echte Entschuldigung oder ein „leider“ kann Wärme und Verbundenheit ausdrücken – wenn es bewusst gemeint ist.

Entscheidend ist die Frage:

  • Sage ich es, weil ich wirklich etwas bedaure?
  • Oder sage ich es reflexhaft, weil ich denke, ich müsste mich rechtfertigen?

Bewusst eingesetzt sind „sorry“ oder „leider“ ein Zeichen von Empathie.
Automatisch gesagt machen sie uns klein.

Gesellschaftliche Perspektive: Wem nützt der Reflex?

Zum Schluss lohnt sich auch ein Blick aufs große Ganze. Denn die Entschuldigungskultur ist kein Zufall – sie ist gesellschaftlich gelernt. Wer sich ständig entschuldigt, hält sich selbst klein. Und wer sich klein hält, stellt keine Ansprüche. Passt sich an. Funktioniert im System.

Gerade in patriarchalen oder hierarchischen Strukturen ist das besonders sichtbar. Frauen entschuldigen sich häufiger als Männer – nicht, weil sie häufiger Fehler machen, sondern weil sie von klein auf lernen, rücksichtsvoll, empathisch und anschmiegsam zu sein. Wer sich durchsetzt, gilt schnell als dominant oder unweiblich. Wer sich entschuldigt, bleibt im Spiel.

Doch echte Veränderung beginnt da, wo wir sprachliche Muster hinterfragen. Wo wir uns trauen, nicht mehr zu beschwichtigen. Wo wir nein sagen – und es dabei belassen.

Fazit: Du darfst klar sein – ohne Reue

Es braucht Mut, diesen Reflex zu durchbrechen. Doch es lohnt sich. Denn jedes bewusst gesetzte Nein, jede klare Entscheidung, jede unbegründete Absage ist ein kleiner Akt der Selbstermächtigung.

Du musst dich nicht entschuldigen, wenn du deine Energie schützt.
Du bist nicht unhöflich, wenn du deine Bedürfnisse aussprichst.
Und du bist kein schlechter Mensch, wenn du nicht für alle immer verfügbar bist.

Du darfst Grenzen setzen. Ohne „leider“. Ohne „sorry“. Einfach, weil du es dir wert bist.

Birthe Claußen
Birthe Claußen
Ich bin Birthe, Gründerin von muutu und Aktivistin für psychische Gesundheit. Und nein – bei muutu geht’s nicht um Wellness, nicht um Selbstoptimierung und schon gar nicht um „Tschaka, du schaffst das!“-Coaching. Hier gibt’s keine schnellen Tipps oder gut gemeinte Ratschläge, sondern echte, nachhaltige Veränderungsprozesse. Es geht ums große Ganze: um deine Wünsche und Ängste, um alte Muster und neue Wege. Um psychische Gesundheit – tiefgehend, ehrlich und langfristig. Weil das Leben nicht nur besser funktioniert, wenn du dich veränderst, sondern sich wirklich gut anfühlen darf.

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