
Manchmal sitzen wir vor einer Aufgabe, die längst hätte erledigt sein sollen. Der Cursor blinkt, die Uhr tickt, und irgendwo zwischen schlechtem Gewissen und innerem Widerstand spüren wir diese lähmende Mischung aus Druck und Erschöpfung. Wir wissen, was zu tun wäre und tun es trotzdem nicht.
Was dann oft bleibt, ist Selbstvorwurf: Warum schaffe ich das nicht? Warum bin ich so unproduktiv, so schwach, so unfähig?
Doch Prokrastination ist kein Zeichen von Faulheit. Sie ist ein psychologisches Phänomen, das tief mit unserem emotionalen Erleben verwoben ist und oft viel mehr mit Angst, Scham und Perfektionismus zu tun hat als mit fehlender Disziplin.

In der Psychologie wird Prokrastination heute zunehmend als Form dysfunktionaler Emotionsregulation verstanden – also als Versuch, unangenehme Gefühle wie Angst, Scham oder Überforderung kurzfristig zu vermeiden.
Wir schieben nicht die Aufgabe auf, sondern das Gefühl, das mit ihr verbunden ist.
Angst, zu versagen.
Scham, nicht gut genug zu sein.
Druck, alles perfekt machen zu müssen.
Wenn eine Aufgabe diese Emotionen berührt, reagiert unser Gehirn nicht rational, sondern emotional: Es will uns schützen. Aufschieben wird dann zu einer kurzfristigen Erleichterung – einer Flucht vor dem inneren Unbehagen.
Doch je länger sie anhält, desto stärker wird das Schuldgefühl, das uns zurückwirft. So entsteht ein Kreislauf, der weniger mit Faulheit als mit Selbstschutz zu tun hat.
Viele Menschen, die viel aufschieben, sind keine Chaoten, sondern im Gegenteil: extrem gewissenhaft.
Sie haben hohe Ansprüche – an sich, an ihre Arbeit, an ihr Leben.
Perfektionismus erscheint nach außen oft wie Stärke. Doch innerlich ist er häufig eine Strategie gegen Angst und Scham: Wenn ich nur alles perfekt mache, kann mir niemand etwas vorwerfen. Wenn ich alles im Griff habe, bin ich sicher.
Aber dieser Schutz ist brüchig. Denn Perfektionismus setzt uns unter Druck, immer mehr leisten zu müssen und blockiert zugleich den natürlichen Lern- und Fehlermachraum, der Entwicklung überhaupt erst möglich macht. Das führt dazu, dass selbst kleine Aufgaben plötzlich riesig wirken. Der Startpunkt verschiebt sich, weil das Ziel unerreichbar scheint. Und Aufschieben wird zum Versuch, der inneren Bewertung zu entkommen.
Scham ist ein Gefühl, das selten laut ist. Sie spricht nicht in klaren Sätzen, sondern zieht sich leise zurück – ein inneres Zusammenzucken, das Gefühl, nicht genug zu sein.
Was wir oft hören, sind nicht ihre Worte, sondern die Stimmen, die sie in uns hervorruft: der innere Kritiker, der mahnt, antreibt, vergleicht.
Er sagt Dinge wie: Du solltest das längst können.
Oder: Wenn du dich wirklich anstrengst, würdest du es schaffen.
Diese Sätze sind der Versuch, das Schamgefühl zu kontrollieren um die innere Verletzlichkeit nicht spüren zu müssen. Doch je stärker wir uns antreiben, desto mehr verfestigt sich das, wovor wir uns schützen wollten: das Gefühl, nie genug zu sein.
Scham verliert erst dann an Macht, wenn wir sie erkennen. Wenn wir verstehen, dass sie kein Beweis für unser Versagen ist, sondern ein Ausdruck innerer Verletzlichkeit.
Prokrastination zu verstehen, heißt, sich selbst mit anderen Augen zu sehen. Nicht als „jemand, der nicht kann“, sondern als Mensch, der versucht, mit überwältigenden Gefühlen umzugehen.
Selbstmitgefühl ist hier kein weicher Ausweg, sondern ein psychologisch wirksames Gegenmittel. Es hilft, die innere Spannung zu senken und dadurch wieder handlungsfähig zu werden.
Vielleicht geht es also nicht darum, endlich produktiv zu sein. Sondern darum, die Angst zu verstehen, die uns bremst. Die Scham zu würdigen, die uns leise begleitet. Und den Perfektionismus loszulassen, der uns glauben lässt, wir müssten alles fehlerfrei können.
Prokrastination ist ein Beziehungsthema. Nicht zwischen dir und deiner To-do-Liste, sondern zwischen dir und dir selbst.
Jedes Aufschieben erzählt etwas davon, wie du gelernt hast, mit Druck, Erwartungen und innerer Unsicherheit umzugehen. Wenn du beginnst, das zu verstehen, verändert sich etwas Grundlegendes: Du kämpfst nicht mehr gegen dich – du beginnst, mit dir zu arbeiten.
Und genau da, in diesem ehrlichen, mitfühlenden Blick auf dich selbst, beginnt Veränderung.
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