
Es fängt selten abrupt an. Nicht mit einem lauten Knall, sondern eher wie ein leises Klopfen, das man im Alltag überhört, weil anderes dringlicher scheint. Termine, Kinder, Job, Erwartungen. Und irgendwann sitzt jemand spätabends auf dem Sofa, der Blick leer, der Körper müde auf eine Weise, die Schlaf allein nicht lösen kann, und denkt: Warum habe ich nicht früher etwas getan?
Die ehrliche Antwort darauf ist unbequem, aber wichtig: Viele Menschen bekommen Hilfe nicht zu spät, weil sie „zu lange gewartet“ haben. Sondern weil unser System sie zu lange warten lässt.

Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, sagt man. Und gleichzeitig eines der überlastetsten im Bereich psychischer Gesundheit. Wartezeiten von mehreren Monaten sind keine Ausnahme, sondern Alltag. Viele Kliniken sind am Limit, viele Therapeut*innen ausgebucht, und Prävention wird politisch immer noch behandelt wie eine Randnotiz.
Wenn Menschen merken, dass etwas nicht stimmt, stehen sie vor einem Berg an organisatorischen Hürden. „Ruf einfach mal ein paar Therapeut*innen an“, heißt es gern. Wer es versucht hat, weiß, wie sehr dieses „einfach“ an der Realität vorbeigeht.
Und dazwischen liegen Monate. Monate, in denen Betroffene oft weiter funktionieren müssen, obwohl sie längst nicht mehr können.
In meiner Praxis für Psychotherapie erlebe ich immer wieder, dass Menschen bereits seit vielen Monaten hausärztlich begleitet werden, oft mit wiederkehrenden depressiven Episoden oder anhaltender Erschöpfung. Erst nach sechs Monaten folgt dann die Überweisung in Richtung Psychotherapie. Und selbst dann beginnt die nächste Wartezeit. Dieses Muster zeigt sehr deutlich, dass das Problem nicht mangelnde Einsicht ist, sondern ein Versorgungssystem, das Menschen zu lange allein lässt.
Neben den strukturellen Engpässen gibt es eine zweite Kraft, die Menschen zurückhält: Scham. Psychische Belastungen werden noch immer stigmatisiert, oft subtil, aber wirksam. Viele erzählen mir rückblickend, sie hätten schon viel früher gespürt, dass etwas nicht stimmt. Aber da war diese innere Stimme, die sagte: Reiß dich zusammen.
Oder: Andere schaffen das doch auch.
Oder: Ich muss erst beweisen, dass ich es wirklich versucht habe.
Scham lässt Menschen zweifeln, ob ihr Leid „berechtigt“ ist. Sie minimiert Symptome, macht sie unsichtbar, und sorgt dafür, dass Betroffene oft erst Hilfe suchen, wenn sie kaum noch können.
Wir leben in einer Kultur, in der Leistung über allem steht. Pausen sind verdächtig, Erschöpfung wird romantisiert, und Selbstoptimierung gilt als Tugend. Viele psychische Krisen entstehen nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Umfeld, das Unmenschliches normalisiert.
Und gleichzeitig wird psychische Gesundheit gern auf leichte Themen reduziert: Achtsamkeit, Selfcare, kurze Micro-Pausen. Über das Reden ist nicht das Problem. Aber oft bleibt es an der Oberfläche. Die tieferen, verletzlichen Themen – Ohnmacht, Überlastung, Scham, Gewalt, Verlust – geraten aus dem Blick.
In diesem Klima ist es kein Wunder, dass viele Menschen erst dann Unterstützung suchen, wenn ihre Symptome längst verhärtet sind.
Gerade weil das Versorgungssystem überlastet ist, gewinnt Prävention eine zentrale Bedeutung. Es ist nicht die Aufgabe von Menschen, erst völlig erschöpft zu sein, bevor Hilfe zugänglich wird. Viele Belastungen könnten abgefedert oder früh erkannt werden, wenn es niedrigschwellige Möglichkeiten gäbe, sich selbst ernst zu nehmen, bevor alles zusammenbricht.
Genau aus diesem Gedanken heraus ist MindCare, mein Vorsorgeangebot für psychische Gesundheit, entstanden. Es unterstützt Menschen dabei, Belastungen früh wahrzunehmen, innere Signale wiederzuentdecken und Wege zu finden, die ihnen guttun, bevor Stress chronisch wird oder Erschöpfung zur Normalität wird.
Prävention ist kein Luxus. Sie ist ein Schutzfaktor in einer Welt, die selten langsam genug ist, um rechtzeitig innezuhalten.
Wenn Menschen früher Hilfe bekommen sollen, brauchen wir zwei Dinge: ein System, das erreichbar ist, und eine Kultur, die Erschöpfung nicht als persönliches Scheitern deutet.
Solange Wartezeiten monatelang sind, müssen wir zumindest den zweiten Teil aktiv gestalten: indem wir offen benennen, warum so viele viel zu spät Hilfe bekommen. Indem wir Scham entkräften, Belastungen ernst nehmen und klarstellen, dass niemand warten muss, bis es nicht mehr geht.
Psychische Gesundheit darf kein Mutbeweis sein. Und Unterstützung sollte nicht der Notausgang sein, sondern ein früher Schritt, der zeigt: Ich bin Mensch, und ich darf Hilfe brauchen.
Noch keine Kommentare vorhanden
Was denkst du?