Nicht das Fühlen macht uns krank – sondern dass wir verlernen zu fühlen

Birthe Claußen
von Birthe Claußen

Manchmal beginnt es ganz leise.
Ein flaues Gefühl im Bauch, ein Druck auf der Brust, ein leiser Stich, der sagt: Irgendetwas stimmt nicht. Doch bevor wir überhaupt hinspüren können, ist er schon übertönt – von Terminen, To-do-Listen, Erwartungen. Statt zu fühlen, funktionieren wir. Und das nicht zufällig: Wir haben gelernt, Gefühle leise zu drehen.

Es ist eine stille Kompetenz, die in unserer Gesellschaft hoch im Kurs steht – und einen hohen Preis hat. Mehr dazu, warum psychische Gesundheit uns alle betrifft, findest du in diesem Artikel.

Schwarz-weiß Fotografie eines nachdenklichen Gesichts, teilweise im Unschärfebereich, als Symbol für emotionale Entfremdung und inneres Abschalten.

Die stille Strategie des Nicht-Fühlens

Viele Menschen wachsen mit der unausgesprochenen Botschaft auf: „Reiß dich zusammen.“ oder „So schlimm ist das doch nicht.“ Gefühle werden so zu etwas, das man kontrolliert, wegdrückt, ignoriert. Was als kurzfristige Überlebensstrategie in belastenden Momenten funktioniert, kann sich im Laufe der Zeit verselbstständigen: Wir verlernen, unsere inneren Signale wahrzunehmen.

Psychologisch gesprochen handelt es sich dabei um emotionale Suppression, also das bewusste oder unbewusste Unterdrücken emotionaler Reaktionen. Diese Form der Emotionsregulation mag nach außen stabil wirken – nach innen aber hat sie einen Preis. Wer permanent Gefühle unterdrückt, aktiviert dauerhaft das Stresssystem: Der Körper bleibt in Alarmbereitschaft, weil das emotionale Signal zwar nicht gefühlt, aber sehr wohl vorhanden ist (--> wenn du verstehen möchtest, was dabei in deinem Gehirn passiert, lies gern weiter in diesem Beitrag über chronischen Stress).

Stress, Erschöpfung und emotionale Entfremdung sind häufig keine Zeichen eines Mangels an Stärke, sondern Spätfolgen einer zu gut eintrainierten Anpassung.

Gefühle sind keine Störung – sie sind Information

Gefühle sind keine Fehlfunktion, die repariert werden muss. Sie sind ein inneres Orientierungssystem. Angst warnt uns. Trauer signalisiert Verlust und Bedürftigkeit. Wut zeigt Grenzen. Freude verbindet.

Wenn wir diese Signale nicht mehr wahrnehmen oder sie reflexartig wegdrücken, verlieren wir die Verbindung zu uns selbst. Es ist ein bisschen, als würde man den Rauchmelder abstellen, um das Piepen nicht zu hören – während es in der Küche längst brennt.

Im Gehirn lässt sich das gut nachvollziehen: Das limbische System, das unsere emotionale Verarbeitung steuert, arbeitet auch dann weiter, wenn wir unsere Gefühle kognitiv ausblenden. Das bedeutet: Auch unterdrückte Emotionen hinterlassen Spuren – in Form von erhöhter Muskelspannung, flacher Atmung, Schlafproblemen, Reizbarkeit oder dem Gefühl innerer Leere.

Die Erschöpfung des inneren Wegdrückens

Gefühle verschwinden nicht, wenn wir sie nicht fühlen. Sie stauen sich. Und dieser Stau kostet Energie.

Menschen, die dauerhaft im Funktionsmodus leben, berichten häufig von innerer Erschöpfung, obwohl sie äußerlich „alles im Griff“ haben. Der Körper trägt, was die Psyche nicht halten darf. Das führt langfristig zu einem Zustand, den man als emotionale Dissoziation oder Entfremdung von sich selbst beschreiben kann: Man spürt, dass etwas nicht stimmt, aber nicht mehr, was es ist.

Diese Entkopplung macht anfälliger für chronischen Stress, depressive Verstimmungen und Burnout. Sie verhindert, dass wir rechtzeitig wahrnehmen, wann wir erschöpft sind, wo unsere Grenzen liegen – und was wir eigentlich brauchen.

Emotionale Kompetenz: Wieder lernen zu fühlen

Emotionale Kompetenz ist keine angeborene Gabe, sondern eine erlernbare Fähigkeit. Sie beginnt mit dem Mut, hinzuschauen – und mit kleinen, konkreten Momenten des Spürens.

Wenn wir beginnen, Gefühle nicht mehr als Bedrohung, sondern als Information zu verstehen, verändert sich unser Umgang mit ihnen. Wir lernen, sie zu benennen, zu verstehen und auszuhalten, ohne sie sofort zu bewerten oder zu bekämpfen.

In der Psychologie spricht man hier von Emotionsregulation, aber nicht im Sinne des Unterdrückens, sondern des bewussten, achtsamen Umgangs mit inneren Zuständen. Wer seine Gefühle spürt, kann Bedürfnisse erkennen. Und wer seine Bedürfnisse kennt, kann für sich sorgen – bevor der Körper Alarm schlagen muss.

Der Weg zurück zu dir

Wieder zu fühlen ist kein schwacher Moment. Es ist ein kraftvoller Akt der Selbstverbindung. Es bedeutet nicht, sich in Emotionen zu verlieren – sondern sie als Teil des eigenen inneren Kompasses zurückzugewinnen.

In einer Welt, die Funktionieren belohnt und Fühlen oft als Schwäche abtut, ist das ein stiller, aber radikaler Schritt.

Ein Schritt, der Stress, Erschöpfung und Entfremdung nicht einfach „wegmacht“ – aber verhindert, dass sie sich unbemerkt festsetzen.

Wenn du lernen möchtest, wieder stärker mit dir in Kontakt zu kommen, findest du hier passende Angebote und Begleitung.

Fühlen ist nicht das Problem.
Fühlen ist der Anfang.

Was dich auch interessieren könnte:


Birthe Claußen
Birthe Claußen
Ich bin Birthe, Gründerin von muutu und Aktivistin für psychische Gesundheit. Und nein – bei muutu geht’s nicht um Wellness, nicht um Selbstoptimierung und schon gar nicht um „Tschaka, du schaffst das!“-Coaching. Hier gibt’s keine schnellen Tipps oder gut gemeinte Ratschläge, sondern echte, nachhaltige Veränderungsprozesse. Es geht ums große Ganze: um deine Wünsche und Ängste, um alte Muster und neue Wege. Um psychische Gesundheit – tiefgehend, ehrlich und langfristig. Weil das Leben nicht nur besser funktioniert, wenn du dich veränderst, sondern sich wirklich gut anfühlen darf.

Newsletter

Melde dich für unseren Newsletter an, und erhalte aktuelle Informationen und wertvolle Impulse für dein persönliches Wachstum. Kostenlos und jederzeit abbestellbar.
Deine Daten sind sicher. Hier ist unsere Datenschutzerklärung.

Noch keine Kommentare vorhanden

Was denkst du?

..