Wenn alles zu viel wird – Was chronischer Stress mit deinem Gehirn macht

Birthe Claußen
von Birthe Claußen

Kennst du das Gefühl, dass dir alles über den Kopf wächst? Dein Kalender ist überfüllt, deine To-do-Liste scheint nie kürzer zu werden, und dein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren? Überforderung ist ein Zustand, den viele Menschen in unserer heutigen Gesellschaft erleben – und doch wird er oft unterschätzt. Dabei kann anhaltender Stress unser Gehirn und unsere gesamte psychische Gesundheit stark verändern. Was genau passiert also in uns, wenn der Stress nicht mehr aufhört? Und wie wirkt sich das auf unser Denken, Fühlen und Handeln aus?

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Was ist eigentlich chronischer Stress?

Stress ist grundsätzlich nichts Schlechtes. Kurzfristig aktiviert er unser Alarmsystem, macht uns wach, fokussiert und leistungsbereit. Unser Körper schüttet Adrenalin und Cortisol aus, das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen sich an – wir sind bereit zu reagieren. Doch während unser Stresssystem ursprünglich für akute Gefahrensituationen gedacht war (z. B. die Flucht vor einem Raubtier), ist es heute fast dauerhaft in Alarmbereitschaft.

Chronischer Stress entsteht, wenn Belastungen über längere Zeit bestehen, ohne dass eine echte Erholung dazwischen möglich ist. Das kann durch äußere Faktoren passieren – wie Arbeitsdruck, Zeitmangel, finanzielle Sorgen oder familiäre Belastungen – aber auch durch innere Antreiber wie Perfektionismus, ein ständiges Gefühl, nicht zu genügen, oder der tief verankerte Wunsch, es allen recht zu machen. Auch Grübelschleifen, emotionale Altlasten und das Gefühl, ständig beobachtet oder bewertet zu werden, wirken wie Dauerstress auf das Nervensystem.

Innere und äußere Faktoren greifen dabei oft ineinander. Wer sich im Inneren nie als „genug“ erlebt, wird äußeren Anforderungen schneller als bedrohlich empfinden. Wer früh gelernt hat, für Anerkennung leisten zu müssen, wird Pausen schwer aushalten. Chronischer Stress hat also nicht nur mit dem zu tun, was wir tun – sondern ganz entscheidend mit dem, was wir über uns selbst denken.

Was passiert im Gehirn bei chronischem Stress?

Chronischer Stress verändert unser Gehirn – nicht nur kurzfristig, sondern langfristig und tiefgreifend. Drei zentrale Bereiche sind davon besonders betroffen:

Die Amygdala – erhöhte Alarmbereitschaft

Die Amygdala ist unser emotionales Frühwarnsystem. Sie hilft uns, Gefahr zu erkennen und schnell zu reagieren. Bei anhaltendem Stress wird sie aktiver und empfindlicher. Die Folge: Wir reagieren schneller ängstlich, angespannt oder gereizt – selbst dann, wenn keine reale Bedrohung vorliegt. Das System läuft heiß und verliert an Differenzierungsfähigkeit.

Der Hippocampus – Gedächtnis unter Druck

Der Hippocampus ist wichtig für unser Erinnerungsvermögen, für Orientierung und dafür, Stresssignale einzuordnen und wieder zu beruhigen. Bei chronischem Stress wird dieses Areal in seiner Funktion gehemmt. Die neuronale Plastizität nimmt ab – das heißt: Lernen fällt schwerer, Erinnerungen verschwimmen, das Gefühl von Klarheit geht verloren. Auch emotionale Selbstregulation gerät aus dem Gleichgewicht.

Der präfrontale Cortex – das Denkzentrum blockiert

Hier liegt unsere Fähigkeit zur Reflexion, zur Planung, zur Bewertung. Unter Dauerstress schaltet sich dieser Teil zunehmend ab. Wir handeln impulsiver, unüberlegt, reaktiv. Die Fähigkeit, bewusst Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen oder Situationen einzuordnen, nimmt ab – was paradoxerweise die innere Unruhe noch verstärkt.

Der Teufelskreis der Überforderung

All diese Veränderungen wirken zusammen. Eine empfindlichere Amygdala sendet ständig Warnsignale. Der Hippocampus kann sie nicht mehr filtern oder regulieren. Der präfrontale Cortex ist nicht mehr in der Lage, einzuordnen oder ausgleichend zu wirken. Das Ergebnis: Wir erleben uns als permanent überlastet, getrieben, unklar – und gleichzeitig unfähig, aus diesem Zustand auszusteigen.

Viele Menschen beschreiben diesen Zustand als „funktionieren müssen“, während sie innerlich immer leerer werden. Die Fähigkeit zur Selbstregulation ist beeinträchtigt – nicht, weil wir zu schwach wären, sondern weil unser System dauerhaft im Überlebensmodus steckt.

Vom inneren Stau zur Entlastung

Ein zentraler Aspekt von chronischer Überforderung ist die Gleichzeitigkeit. Nicht die Anzahl der Aufgaben allein überfordert uns – sondern der Umstand, dass in unserem Kopf alles gleichzeitig präsent ist. Unser Gehirn ist dafür nicht gemacht. Es kann immer nur eine bewusste Sache auf einmal verarbeiten.

Diese Gleichzeitigkeit betrifft nicht nur Termine, Mails und Verpflichtungen – sondern genauso Gedanken, Zweifel, ungelöste Gefühle. Auch das innere Erleben kann laut, fordernd, überfordernd sein. Besonders dann, wenn wir früh gelernt haben, immer stark zu sein, Erwartungen zu erfüllen oder unangenehme Gefühle zu verdrängen. Der Druck entsteht dann nicht (nur) durch äußere Umstände, sondern weil im Inneren kein Raum ist, einfach zu sein.

Wenn wir innerlich zehn Tabs gleichzeitig offen haben, geraten wir in einen Zustand mentaler Überlastung. Die Folge: Wir fühlen uns gelähmt, unkonzentriert oder getrieben. Der erste Schritt zur Entlastung liegt daher nicht im noch besseren Zeitmanagement, sondern in der bewussten Entscheidung, den Fokus wieder auf eine Sache zurzeit zu lenken – und dem, was in uns aufkommt, mit Freundlichkeit zu begegnen.

Zwei Übungen gegen akute Überforderung

1. Die STOPP-Technik

Wenn du merkst, dass dein innerer Stresspegel steigt und sich alles zu viel anfühlt, kannst du mit dieser einfachen Übung sofort gegensteuern:

S – Stopp: Halte für einen Moment inne. Brich den Gedankenstrudel bewusst ab.

T – Tief durchatmen: Atme drei Mal tief und ruhig ein und aus.

O – Orientieren: Was passiert gerade in dir und um dich herum? Was fühlst du, was brauchst du?

P – Priorisieren: Was ist jetzt wirklich wichtig? Was ist der nächste kleine Schritt?

P – Plan: Triff eine bewusste Entscheidung für dein weiteres Handeln.

Diese kurze Achtsamkeitspraxis hilft deinem Gehirn, wieder in den regulierenden Modus zurückzufinden – raus aus der Daueranspannung, hin zu mehr Klarheit.

2. Die 5-4-3-2-1-Methode

Wenn Gedanken rasen und du dich innerlich verlierst, hilft diese einfache Übung, dich wieder im Hier und Jetzt zu verankern:

5 Dinge sehen – Schau dich um und nenne fünf Dinge, die du sehen kannst.

4 Dinge fühlen – Spüre bewusst vier Oberflächen oder Gegenstände.

3 Dinge hören – Welche drei Geräusche nimmst du wahr?

2 Dinge riechen – Rieche bewusst zwei Düfte (z. B. Kleidung, Luft, Tee).

1 Sache schmecken – Wenn möglich, trinke etwas oder nimm einen kleinen Bissen.

Diese Methode aktiviert deine Sinne und bringt dich zurück in den Körper – raus aus dem Gedankenkarussell, rein in den Moment.

Fazit: Stress verändert dein Gehirn – aber du kannst gegensteuern

Chronischer Stress ist kein Zeichen von persönlichem Versagen, sondern ein Ausdruck neurobiologischer Überlastung. Die Veränderungen im Gehirn sind real – aber nicht unumkehrbar. Mit Wissen, Achtsamkeit und gezielten Entlastungen kannst du Einfluss nehmen. Dein Nervensystem kann lernen, sich wieder zu beruhigen. Es braucht dafür keine großen Schritte – sondern bewusste, regelmäßige Momente, in denen du dir selbst begegnest.

Für dein gutes Leben.

Birthe Claußen
Birthe Claußen
Ich bin Birthe, Gründerin von muutu und Aktivistin für psychische Gesundheit. Und nein – bei muutu geht’s nicht um Wellness, nicht um Selbstoptimierung und schon gar nicht um „Tschaka, du schaffst das!“-Coaching. Hier gibt’s keine schnellen Tipps oder gut gemeinte Ratschläge, sondern echte, nachhaltige Veränderungsprozesse. Es geht ums große Ganze: um deine Wünsche und Ängste, um alte Muster und neue Wege. Um psychische Gesundheit – tiefgehend, ehrlich und langfristig. Weil das Leben nicht nur besser funktioniert, wenn du dich veränderst, sondern sich wirklich gut anfühlen darf.

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